Rede zur Ausstellungseröffnung „Andrej Pirrwitz: Photographie“, Kunstverein Bayreuth, Neues Rathaus, Ausstellungshalle, 02.11.2011
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
Die Ausstellung zeigt photografische Werke von Andrej Pirrwitz, die seit 2005 entstanden sind. Wenn Sie aber „den ganzen Pirrwitz“ haben wollen, dann greifen Sie bitte zu seinem umfangreichen Buch, das 2010 in der Edition Braus erschienen ist (mit einem lesenswerten, tief lotenden Text von Klaus Honnef), in dem es auch um die frühen Arbeiten geht, wofür Pirrwitz noch ganz unmittelbar in bestimmte Szenen „hineinfotografiert“ hat. Mittlerweile (etwa ab 2005/2006) nimmt er bewusst Veränderungen im Raum vor, bevor er fotografiert. Hier handelt es sich also um einen künstlerischen Eingriff in die Realität. Der Künstler beobachtet, entdeckt, aber er fotografiert nicht, was da ist, er verzichtet auf die Bestätigung des Vorgefundenen, er reinigt, korrigiert, konzentriert, reduziert und minimalisiert.
Im Unterschied zu den Naturalisten, die bloß fixieren, was ihnen vor die Linse kommt, nutzt Pirrwitz das, was ihm begegnet, zum Arrangieren. Er deutet es um, verknüpft es mit sich selbst als Autor und lädt es mit neuen Bedeutungen auf. Sein Prinzip ist das des „Refraiming“, um mal einen Begriff des neurolinguistischen Programmierens zu verwenden. Alles, was wir wahrnehmen, nehmen wir in einem Rahmen (einem Bezugsrahmen, einem Wahrnehmungsrahmen) wahr. Durch Umdeutung wird einer Situation oder einem Geschehen eine andere Bedeutung oder ein anderer Sinn zugewiesen, und zwar dadurch, dass man versucht, die Situation in einem anderen "Rahmen" zu sehen. Auf welch subtile und vielfältig ästhetische Weise man hier vorgehen kann, zeigt uns Andrej Pirrwitz auf eindrucksvolle Weise.
Die Veränderung des räumlichen Bezugsrahmens erfolgt wesentlich durch Entfärbung oder, umgedreht, durch farbliche Akzentuierung. Ob sich dabei Farbe auf der Wand oder Farbe auf einem Glas vor der Wand befindet, bleibt sein Geheimnis. Auf jeden Fall werden durch derartig raffinierte Manöver Tiefen-Effekte und Bilddynamik erzeugt.

Im Übergang zwischen Fotografie und Malerei hat der Künstler eine Nische inne, in der er emotional sein kann, ohne dass seine Bilder banal wirken, virtuos, ohne Kompositionen technisch zu exekutieren. Durch seine Bilder treten wir ein in einen wahrhaft vibrierenden Kosmos aus Licht, Farbspuren und Zeitlosigkeit.

Gerade weil die Szenerie sich oft kalt anfühlt, weil Leere, Verlassenheit und grauer Beton dominieren, kann freilich auch das Gefühl aufkommen, dass wir das Diesseits bereits verlassen haben. Stahlträger werden zu Korsettstangen einer „tragischen Idylle“. Und doch ziehen diese Bilder einen magisch an. Ihnen wohnt ein kaum fassbarer Zauber inne, der zur Perfektion getrieben und von Bild zu Bild malerisch unterstrichen und sanft gebrochen wird. Andrej Pirrwitz’ Bilder, sehnsüchtig, wissend und emphatisch, sind nicht weniger als ein Ausloten existentieller Möglichkeiten im Anzweifeln von Realität und Identität

Andrej Pirrwitz konzipiert und erarbeitet seine Bilder durch Raum-Modifikationen. Arbeit im Raum heißt: Arbeit an der Szene, Arbeit an der Form, Herstellung ungeahnter Zusammenhänge. Nicht zuletzt sind es Mittel wie Rasterung oder das Einbringen einer expressiven Farbspur, die das Redefinieren von Räumen und Zusammenhängen, die als fotografisches Bild festgehalten werden, als ungemein spannende, energiegeladene Spielposition charakterisieren.
Wie wir teilweise in seinen Bildern sehen können, strebt es Andrej Pirrwitz geradezu an, als agierende Variable wahrgenommen zu werden. Trauen Sie Ihren Augen: Die Figur im Bild ist der Künstler selbst. Durch seine Anwesenheit im Raum bzw. im fotografischen Bildraum wird der Raum erst zu dem, was er sein soll: „Ich-Raum“ - Beschränkung und Potential der Erweiterung, Ausdrucksvolumen des Sehnens nach dem sich weitenden Raum.
Erst mit der Überwindung des Raumes können wir uns innerlich weiten. Mit der Überwindung des inneren Raumes können auch wir die Überwindung des äußeren Raumes erreichen. Das klingt zugegebenermaßen ein bisschen nach spiritueller Suche. Wir sollten diesen Aspekt freilich nicht überstrapazieren. Zweifellos geht es Andrej Pirrwitz um eine Loslösung von einengenden Parametern und um ein Denken in Bildern, das die Entgrenzung von Raum und Zeit künstlerisch betreibt. Nennen wir es Selbstvergewisserung. Oder sagen wir einfach: Bewusstseinsentfaltung. Aber dieser Künstler ist ein Bildgestalter, kein Esoteriker.

Ein, zwei Bilder – und man erkennt einen Pirrwitz. Seine Werke haben eine Unverwechselbarkeit, die wesentlich auf den Elementen der Achtsamkeit, der Geräuschlosigkeit und der Stillstellung von Zeit basiert.
So wie der Künstler das Überspringen von Raum-Determinanten probt, so stellt er auch Fragen nach seinem 2. Grund-Thema, der Zeit. Zeit in bzw. mit seinen Bildern fühlbar werden zu lassen, gehört zu seiner Weltbeobachtungsstrategie. Und er ist sich sicher – wo er zeit-los ist, löst sich alles. Jetzt.

Von der Echohaftigkeit und dem Nachschwingen einer Form in einer anderen (wie in seinem Bild „Gehweg“ von 2007) bis zum mächtig aufwogenden Beben haben seine Bilder einen einzigartigen Klang, der selbst in den malerischen Zonen und melancholischen Unschärfebereichen so brillant artikuliert bleibt, wie es nur einem Menschen gelingen kann, der in der Lage ist, Stille einzufangen und in sich und in diverse Daseinsformen hineinzuhören.
Mental hilft nur ein Bild, eine Idee, die die Stille in Form übersetzt und alles Mechanistische auflöst.
"Wer du bist", sagt Pirrwitz, „hängt wesentlich davon ab, in welchen Labyrinthen du bereits gewesen bist“.

Andrej Pirrwitz nimmt sich Zeit bei der Selbsterkundung. Pro Jahr entstehen nicht mehr als etwa 15 Bilder, die er mit der Großbildkamera macht. Bevor es aber überhaupt zu einem Bild kommt, muss ein langwieriger Auswahl- und Vorbereitungsprozess durchgestanden werden, der nicht selten damit endet, dass Andrej Pirrwitz in schnellen Wechselschritten hinter und vor der Kamera ist, außerhalb des Bildes und Teil desselben.
Er vermag uns mittels Langzeitaufnahmen zwischen einer und drei Minuten zu signalisieren, wie uns die verrinnende Zeit verbraucht, aber zum Glück auch vollendet, wie wir von
Antoine de Saint-Exupéry wissen.
C.T.

^