Der Kommissar geht um Ausstellungseröffnung Andrej Pirrwitz photographie
Eigentlich braucht Andrej Pirrwitz keine Texte zur Kunst mehr – Sprachakrobaten wie Klaus Honnef oder Christoph Tannert haben über seinen Fotografien um Worte gerungen, vieles, vielleicht sogar zu vieles ist gesagt, das Ersonnene, Ersehene, Ersehnte mag mitunter auch zerredet und zerrüttet werden. Also habe ich mich auf die Suche nach dem begeben, was beim Texten über jenen Mann, dessen Ausstellung heute eröffnet wird, und seine Arbeit bislang scheinbar ungesagt blieb, und zwar ausgehend von jenem, was die Welt schon weiß: Von analoger Lichtbildnerei ohne Kunstlicht ist da die Rede, von der Linhoff-Großformatkamera ausgerüstet ausschließlich mit 150mm-Weitwinkel- ohne Zusatzobjektiv, vom Farbnegativfilm, der anders als der Diapositivfilm, mit dem man keine Nacht- und Kelleraufnahmen machen könne, den Farbreichtum eingrenzt, von Belichtungszeiten zwischen 30 Sekunden und 3 Minuten, von keiner technischen oder gar digitalen Nachbearbeitung, von der Entgrenzung von Raum und Zeit, von jährlich bis zu 20 Aufnahmen, die das langsam, aber stet wachsende Oeuvre des Doktors der Physik, Industrielocationscouts, Marketingmanagers und eben Künstlerfotografen sowie Fotografiedozenten mit Vorbelastung durch den Malzirkel im Kulturhaus Schkopau ausmachen, Disziplinen, die zunächst widersprüchlich daherkommen mögen und doch miteinander korrespondieren, worauf ich eingehen möchte.
Streng genommen bzw. biografisch betrachtet kommt Andrej Pirrwitz – und seine Aufnahmen lassen dies vermuten – aus der Malerei, er beginnt quasi 2001 mit 38 Jahren aus seinem bis dahin praktizierten Berufsleben – das sich auch nicht gerade wie eine Stino-Karriere liest – auszusteigen und sich seinen Kindheitstraum zu erfüllen, knüpft dort an, wo er von der 1. bis zur 8. Klasse in der Berliner Grundschule 1973-81 bereits war: in der Sphäre des freien Kunstmachers, der sich leidenschaftlich durch die Nächte malt, mit seinem Klassenkameraden, dem „Einzigen, der auch noch malte“, um beste oder besser bessere Ergebnisse wetteifernd und eifersüchtelnd. Der setzte seinen Werkweg glattweg und vermeintlich folgerichtig mit dem Malereistudium fort, bis er nicht mehr wusste, was er malen sollte und die Bildnerei an den Nagel hing, er hatte sich tot gemalt, wie er Andrej Pirrwitz jüngst beim Klassentreffen, dem ersten nach 15 Jahren, gestand. Vielleicht war Pirrwitz bereits in den 1970ern von diesem Virus befallen, er nennt ihn „die andauernde Sucht und konsequente Suche im Nichts nach dem Gefühl der Unwirklichkeit“.
Vielleicht kam bei Pirrwitz aber gerade aufgrund jenes zwanzig Jahre währenden und nur auf den ersten Blick aus künstlerischer Sicht abwegig anmutenden Intermezzos als Physiker und Marketingagent die Sehnsucht nach dem Auffinden der Bilder im Kopf umso deutlicher zum Vorschein. Wenn Pirrwitz sagt, dass er am Anfang seiner künstlerischen Laufbahn schon ein Bild im Kopf hatte, auf dessen Suche in der Realität er sich begeben wollte, so ist das etwas komplexer gemeint, nicht als etwas Bestimmtes, ein Motiv, sondern ein Oeuvre, ein Universum, das er erschließen wollte. Für ihn hat sich gezeigt, dass die Dinge, die er tut, absolut sein können. Bewusst hat er sich für die Kunst entscheidet, soziale Errungenschaften und Sicherheit, Firmenwagen und dergleichen aufgegeben. Man hat ja nur ein Leben. Es gibt dann natürlich kein Zurück mehr in den alten Job, denn nach einem solchen Schritt nimmt dich kein Mensch mehr.
Als Autodidakt vermisst Pirrwitz die akademische Ausbildung nicht, vielleicht würde er ansonsten auch dort gelandet sein, wo sein Freund, der nicht mehr weiß, was er malen soll, jetzt ist. Vielleicht ist es aber auch und gerade jene über die Jahre im unakademischen Freien gesammelte Raumerfahrung, die die Quelle für die Intentionen, Bilderfindungen oder Bild-Erfindungen, sprich seine andauernde Lust am Suchen und Ermitteln nie versiegen ließ. Es sei fast wie eine kommissarische Untersuchung, ein Inspizieren und Scannen, er wisse nur nicht, was er suche, aber das ist ja beim Kommissar genau so. Er sucht die Indizien für seine Arbeit. Eigentlich verwischt er alte und legt neue Spuren in eine vermeintliche Vergangenheit selbst, eine Umkehr von Zeit und zeitlichen Abläufen, nicht nur ein Festhalten eines zeitlichen Ablaufs sei das. Ja, Pirrwitz ist ein Ermittler, getrieben von einem Thema, das ihn in der Gesamtschau seiner Arbeiten wie ein Fetisch zu leiten scheint: Leerstehende Räume, liegen gebliebene Liegenschaften mit industriellem Hintergrund, dramaturgisch in Szene gesetzt. Ihr verbindendes Element sind Variationen auf die Zeit (und den Raum), „Raum-Zeit-Kondensate“ oder „tempophile Etüden“, wie er selbst sie in aller Bescheidenheit nennt, einzustudierende oder einstudierte Übungen also, die einem zu größeren Fertigkeiten verhelfen sollen – das Ganze aber auch mit einem Augenzwinkern zum französischen Philosophen Gaston Bachelard, der, vermutlich wie Pirrwitz, in der Wissenschaft und künstlerischen Imagination wesentliches Wachstumspotenzial für den Menschen sah und der im selben Jahr in Paris starb, als Pirrwitz in Dresden das Licht der Welt erblickte – 1963. Es ist Bachelards „Poetik des Raumes“, in der er von Topophilie (der Liebe zum Raum, der Empfindung zum Ort) spricht und meint: „In seinen tausend Honigwaben speichert der Raum verdichtete Zeit. Dazu ist der Raum da.“ Analog dazu wäre die Tempophilie dann Pirrwitzens Liebe und Empfindung und emotionale Nähe zur Zeit und deren physischem und physikalischem Wechselspiel, wie es sich in der Fotografie verbildlicht. Und so erzählt uns der Raum-Zeit-Regisseur Pirrwitz: „Wesentlich sind nicht Thema, Ort oder Zeitpunkt der Aufnahme, sondern der Zeitab- und -verlauf als solcher während der Aufnahme, dessen Sichtbarmachung und letztlich ausgedrücktes zweidimensionales Gebilde.“ Fast hätte er Gemälde gesagt.
Die Funktionalität der Räume und ihre stille, teils trostlose Melancholie sowie die Abwesenheit jener, die einst hier waren, spricht Bände über deren Vorleben, die Töne und Lautmalereien, sprich den Krach, der hier einst geherrscht haben muss. Es findet ein Prozess des Aufspürens, des (mentalen) Belagerns statt – auch davon erzählen seine Bilder.. „Ich merke mir die Räume meistens im Kopf, denn die wirkliche Bildqualität kann man nur im Kopf und mit der richtigen Kamera erfassen. Manchmal habe ich ein kleines schwarzes Papierrechteck bei mir, um einen Bildausschnitt oder Bezugsrahmen an der Realität zu testen.“ Später greift er in die Räume ein, schminkt sie manchmal, wie er betont. Einem Bildhauer oder Bühnenbildner nicht unähnlich, selektiert, modelliert, arrangiert, modifiziert, installiert er, es gehe darum, die Poesie des Raumes zu finden, indem er entweder bestimmte Informationen von Welt auslöscht oder neue Elemente hinzufügt. Der Reife und alles entscheidenden ästhetischen Erfahrung, was zum Bild dazugehört und was nicht, diesem Schaffens- als Ausleseprozess geht ein gewisses Maß an Lebenserfahrung voraus. Man ist zunächst von Vielem begeistert, aber nur Weniges hat Bestand und nachhaltige Wirkung. Eine Wand, Säulen, Türen oder bestimmte Graffitis werden grau oder schwarz übermalt, es wird entfärbt, neutralisiert, gereinigt, kaschiert, weggeblendet, versteckt. Aber auch das Einfärben bestimmter Gegenstände, das Setzen bestimmter Farbakzente, gehört zum Herrichten eines Raumes. Manchmal rückt Pirrwitz vor Ort gefundene Gegenstände, vorzugsweise Stühle, Sessel, Ständer und Gestelle, auch mal ein Ruderboot, eine Metalltreppe, einen Büro- oder einen Werktisch, von einem Raum in den anderen: „Die Bedingung ist, dass man gnadenlos jede Ecke, den Keller, die Dusche, das Klo, das Dachgeschoss untersuchen muss. Wenn dann weit weg ein Stuhl im Gebäude steht, finde und benutze ich ihn. Es ist fast wie ein Puzzlespiel, das ich lösen muss.“ In zwei „single cases“ – Einzelfällen also – fertigt Pirrwitz extra einen Betonstuhl, den er im Auto wie andere Requisiten, mit denen er gern ein Foto machen würde, an den Ort des Geschehens karrt, über Zäune hievt, in den auserwählten Raum schleppt. Ein vorgefundenes Eisengestell potenziert sich in einem Weiteren, wurde während der Belichtung verschoben, sodass es als Objekt zweimal auftaucht, und auf der Wand weitergemalt – eine „Neuversetzung“. Aber auch Spiegel- und Schatteneffekte dienen dazu, eine (raum-zeitliche) Mehrdimensionalität zu erzeugen.
Pirrwitz steht mit seinen malerischen Aufnahmen in einer fotografischen Tradition, die ihre Anfänge im 19. Jahrhundert wieder in Erinnerung ruft, als das gerade entdeckte Medium zwar neue (mechanisch verfeinerte) Abbildungsmöglichkeiten eröffnete, künstlerisch-thematisch aber auch im Geiste der Malerei verwurzelt war und diese (ikonografisch) zunächst noch imitierte, mit dem Unterschied einer getreueren Wiedergabe der sichtbaren Wirklichkeit, so glaubte man jedenfalls damals. Man denke nur an die erste lichtbeständige, d.h. dauerhafte Fotografie der Welt, die 1826 dem Franzosen Nicéphore Niépce gelang, der seit zehn Jahren mit lichtempfindlichen Substanzen experimentiert hatte, um ein Bild zu erhalten: Es war ein Blick aus dem Fenster seines Arbeitszimmers, heliografiert, also wundervoll versprachlicht als „von der Sonne gezeichnet“, mit einer Belichtungszeit von acht Stunden, ein Blick, der auch als früh-pointilistische Schwarzweißmalerei (die Pointilisten wollten ihren Stil ja zunächst auch Farblichtmalerei nennen) hätte durchgehen können, als er in den 1950ern in einem alten Seemannskoffer in England wieder entdeckt wurde. Bereits hier wird, wie später bei Pirrwitz, so Klaus Honnef, „Grau zum Ereignis, entfaltet ein ungeahntes Spektrum von Nuancen und legt den Mantel der Unauffälligkeit ab, ohne auffällig zu werden.“ Und Pirrwitz: „Das Graue liefert eine Unwirklichkeit, eine Reaktion auf seinen Widerpart, das Schrille der Stadt, es verkörpert Ruhe, Übersicht, Neutralität für die Komposition, vielleicht die Leinwand in der Malerei, die ich für meine Eingriffe, meine Spurensicherung brauche, mit der ich mich von der Fotografie abgrenze, denn was mich interessiert ist die Farbfotografie, wenn sie ganz grau wird.“ Sie macht Pirrwitz-Fotografie unverwechselbar.
Seit der frühen Fotografie changierte ihr Verhältnis zur Malerei zwischen Konkurrenz und bewusster Abhebung einerseits, zwischen Seelenverwandtschaft mit wechselseitigen Austauschprozessen und Anregungen zum Experimentieren andererseits. Mittlerweile kombiniert man in progressiver Weise die Darstellungsmittel und Prinzipien beider Verfahren und profitiert von ihren jeweiligen Ausdrucksmöglichkeiten. Dies tut Pirrwitz auch. Das Ergebnis ist eine Art Lichtmalerei, eine Fotografie mit malerischen Mitteln. Die Perspektive und Komposition, die Verknüpfung unterschiedlicher Bildebenen, Licht- und Farbeinsatz, aber auch das Format changieren dabei zwischen beiden Formen wie auch zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion. Erneut betont und rehabilitiert Pirrwitz das Malerische der Fotografie, und zwar ganz ohne auf Nachbearbeitungen oder digitale Effekte zurück zu greifen! Es überrascht nun nicht mehr, und fasziniert doch gerade deshalb, dass seine Fotografien auf den ersten Blick wie Gemälde wirken.
Auch die vermeintlichen Abgrenzungen und Brüche in der Biografie Pirrwitz stellen sich, ich sagte es bereits, aus meiner Sicht eher als Verschmelzungen und Verflechtungen dar, greifen, so ließe sich spekulieren, denn wissen wird dies nur er, ineinander, setzen vielleicht sogar einander voraus, kausal verquickt, Ursache und Wirkung: Im Auftrag einer US-Firma ist Pirrwitz ab 1993, also unmittelbar nach seiner Physik-Promotion an der Berliner Humboldt-Universität, im Ostblock, vor allem in Russland und Rumänien unterwegs, um sich nach aufzukaufenden alten Industriewerken umzusehen. Und so pendelt er zwischen Klausen- und Temeschburg, zwischen Hermann- und Kronstadt oder sucht noch werkelnde sowjetische Militärfabriken auf, läuft stundenlang durch die Straßen, ist quasi vollkommen allein, unabhängig und ausgiebig auf Entdeckungstour, lässt sich treiben, flaniert, pilgert, hat Zeit, nebenbei neugierig zu sein, zu suchen und zu sichten, denn es gibt noch keine Handys und er muss nicht viele Ergebnisse liefern, es reichen auch Erhebungen, Statistiken, Suggestionen. Seine Kompetenz reicht für seinen Spezialbereich im Osten aus, und irgendwann spürt er, wie ihn diese Räume emotional stark ansprechen. Vielleicht waren dies die Zeiten, in denen er ein gewisses Beuteschema auf seinen wenn auch noch nicht vollends künstlerisch ambitionierten Motivjagden entwickelte. Das Suchen definiert inzwischen sein künstlerisches Gesamtwerk, das Aussuchen und Aufsuchen nimmt die meiste Zeit in Anspruch, ist essenzieller Bestandteil, Schlüssel zum erfolgreichen, zufrieden stellenden Bildabschluss, wenn nicht Kern des Werks: „Ich suche viel und finde wenig. Nicht selten passiert es, dass ich gern ein Foto machen würde, dessen Motiv ich aber nicht finde, der Raum ist noch nicht da. Gibt es aber die Richtung, in der ich etwas suche, dann finde ich das Gesuchte auch.“
Die Aspekte des Scheiterns, Ablehnens, Innehaltens, Abwägens, Verzögerns, Zauderns sind essenziell, „wirklich gute Aufnahmen halten sich immer in Grenzen“, sagt er, sind jedoch von überragender Bedeutung für die Psyche. Manchmal kehrt Pirrwitz erst im Herbst oder Winter an einen Ort zurück, den er im Frühjahr inspiziert hat. Manchmal nie. Schon als malender Heranwachsender empfand er, dass Ausdauer, Geduld und Stehvermögen in der Kunst wichtiger sein könnten als technisches Know-how. Die mehrfache Annäherung an einen Ort führt oft auch nicht zum Bild, besser ist es nicht selten, kein zweites Mal zur Inspiration einen Ort aufzusuchen, nichts zu erzwingen, wenn es keine zwingende Idee gibt, was für zahlreiche der aufgesuchten Orte gilt.
Die Titel der Arbeiten – „le témoin d’Icarus“, „Yellowmanie“, „la sphère de Schott“ – eröffnen meist noch eine weitere inhaltliche Dimension, indem sie das Sichtbare in einer literarisch-mythologischen, philosophisch-religiösen oder (kunst)historischen Sphäre ansiedeln. Doch die, wenngleich sorgfältig ausgewählten, Titel sind für Pirrwitz nicht das Wesentliche, obwohl oder gerade weil der im französischen Straßbourg Lebende neben seiner Muttersprache noch Russisch, Englisch, Französisch, Spanisch und Chinesisch spricht und sich als sprachkulturell „Entheimateter“ fühlt. Der Titel „Hamlet in Pieck-Stadt“ verweist auf die wie ein Königsthron anmutende Konsole am Ende einer Flucht in einem Säulengang und gleichermaßen auf die Tatsache, dass das Bild in einer verlassenen Tuchweberei in Guben entstanden ist.
Bilder wie der „Raumdenker“ scheinen paradigmatisch, nicht zuletzt für seinen eigenen, theoretisch nicht verstellten oder durch die Kunstgeschichte vorbelasteten künstlerischen Blick. Er nimmt hier schlichtweg eine für ihn typische Pose ein, so wie er sich auch in anderen Bildern diskret so darstellt, wie er ist, wie man ihn kennt und gegebenenfalls wieder erkennt. Doch jeder, der einmal Rodins Denker gesehen hat, wird auch ihn hier wieder entdecken. Doch bleiben die Bildnisse Selbstbildnisse, Zeugnisse eines Vorgangs, einer Aktion, Anwesenheitsbekundungen und Selbsterkundungen, Reisen ins Ich oder, wie Christoph Tannert sagt, in den „Ich-Raum“. Ihm soll Pirrwitz einen kafkaesk-verrätselten Satz kredenzt haben: „Wer Du bist, hängt wesentlich davon ab, in welchen Labyrinthen Du bereits gewesen bist.“ Keines der Bilder ist ohne Eingriff, keines unbemannt, Pirrwitz ist immer im Raum, im Bilde, so wie er ebenda auch fotografierte, den Auslöser betätigte, laut 18 mal bis Zehn zählte, um die Belichtungszeit im Blick zu haben, sich währenddessen an den „richtigen“ Ort stellte, zählend die Stelle seiner Anwesenheit veränderte oder aus dem Bild lief und damit fotografisch durchsichtig wurde. Durch den Ablauf von Zeit ist seine Erscheinung nur noch schemenhaft bis verschwommen zu erahnen oder verschwindet geisterhaft. Perfekt und minutiös durchkomponiert, wird nichts dem Zufall überlassen, man könnte sagen im Vorab ein kleines Drehbuch verfasst und wenn der schöne englische Begriff des „moving image“ nicht bereits besetzt wäre, würde ich diesen Vorgang so bezeichnen, alles Bewegte und Unbewegliche geht am Ende eingefroren-stillgestellt in den Zustand eines Bildes über, wobei die Unschärfe des bewegten Körpers dem Bild die Dynamik des zeitlichen Ablaufs verleiht.
Der direkte Bezug zur Zeit ist im Bilderschatz von Andrej Pirrwitz schon physikalisch gegeben, doch während der Physiker, u. a. also der frühe Pirrwitz, den Raum lediglich als Materie definiert, folgt der lebenserfahrenere Künstler Pirrwitz eher dem Heideggerschen Raumverständnis, das ganz konkret auch im „Raumdenker“ angesprochen wird: Bei Heidegger ist der Raum eine philosophische Angelegenheit, eine Sache der Relation, der Empfindung, keine Frage der Messbarkeit. Die Welt ist eben kein Container mit einer bloßen Anhäufung von Dingen, in dem auch wir Menschen uns aufhalten. Die menschliche Existenz (das Dasein) kann durch eine (natur)wissenschaftliche – stets abstrahierende – Einstellung niemals vollständig erfasst werden. Vielmehr erhält das „In-der-Welt-sein“, dieses geflügelte Heidegger-Wort, seinen Sinn allein durch die Zeitlichkeit, durch vergangene, gegenwärtige und zukünftige Möglichkeiten, ihr Ergreifen oder Nichtergreifen, durch ein ständiges, unumgängliches „sich verhalten“ zur Welt. Nicht durch was, sondern wie sie sich uns (in ihrem Sein) erschließt, das ist (nicht nur für Heidegger) die entscheidende und überhaupt erst einmal richtig gestellte Frage – die moderne Kunst versucht sie mit Vorliebe zu beantworten, oder, eher noch, sie immer wieder neu aufzuwerfen.
Es ist der Innenraum, in dessen unermessliche Tiefen Pirrwitz seit mehr als zehn Jahren vordringt. Der Außenraum, die Natur, die Landschaft wirkt auf ihn eher als eine Fläche, die sich ergießt, wenn man in den Horizont schaut, und ist bei Weitem nicht so spannend wie die Dimensionalität, die durch eine Gebäudestruktur gegeben ist, mit ebenjenen Tiefen, Diagonalen, dominanten Horizontalen und Vertikalen, Perspektiven, Durchbrüchen und Wandabschlüssen. Wie Lyonel Feiniger den Dorfkirchen um Weimar in seiner Malerei den Kathedralenstatus verpasste, bezeichnet auch Pirrwitz die von ihm abgelichteten Industrieinnenarchitekturen, deren menschliche Aspekte, deren Aura ihn umtreibt, als andächtige Räume, „fast wie Kathedralen“, und lichtet sich auf den Arbeiten, betitelt mit „undergroundprayer“, wie in stillem Gebet in deren Tiefen ab.
Die Ausgewogenheit der Formen und die gedämpften Grautöne verleihen den Szenerien etwas Entrücktes. Es sind „Un-Orte“, Zwischenwelten, Randzonen, in denen sich die Spuren der Zeit, des Verfalls und des modernen Menschen (des „homo faber“) ausbreiten. Die Unwirklichkeit im Raum ist bei Pirrwitz stets Grundkriterium für das Erstellen einer Fotografie, die in erster Linie einen Ausdruck von Unbestimmtheit einfangen soll.
Man kommt nicht umhin, an den sowjetischen Regisseur Andrei Tarkowski zu denken. „Andrej Rubljow“ war für Pirrwitz einer der wichtigsten Filme, da fühlt er sich gut aufgehoben, und ich fühlte mich angesichts seiner Fotografien zeitweilig an „Stalker“ erinnert, obwohl das Düstere, Dystopische in seinen Bildern nicht überwiegt. Aber aufgrund dieses unwirklichen Moments als Leitmotiv lohnt sich vielleicht dieser Querverweis zu einzelnen kinematografischen Wunderwerken, in denen aus der vertrauten eine neue Welt entsteht. Denn auch die Fotografien von Andrej Pirrwitz loten existenzielle Möglichkeiten im Anzweifeln von Realität und Identität aus und formulieren Fragen über die Möglichkeit einer Harmonie zwischen dem Einzelnen und einer Welt, die nicht länger den herkömmlichen Strukturen entspricht, sondern einem steten Wandel unterworfen ist.
Apropo Film: Jener kleine fotografische Film über Odessa, den Pirrwitz sozusagen als autobiografische Pflicht um 2001 drehen wollte, steht noch aus. Er hatte als junger Mann dort vier Jahre lang Physik studiert und seitdem treibt ihn die Sehnsucht und die eine oder andere Ausstellung immer wieder in die Ukraine. Doch bisher gehen ihm die Bilder nicht aus und er hat noch genug zu tun in der Fotografie, von der er anfangs nicht wusste, ob er ihr treu bleiben würde.

Frank Motz

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