Die Zeiten und das Bild
Andrej Pirrwitz´ fotografische Bilder
Von Klaus Honnef
Als Spur bezeichnet man im Blick auf das technische Bild-Medium Fotografie die Essenz dessen, was ihre Bilder sichtbar machen; als Spur von etwas, einem Geschehen, einer Situation, einer Person, das sich einmal vor der Kamera befunden hat, während diese ausgelöst wurde; von etwas, das bei der Betrachtung längst verschwunden ist, aber seine tatsächliche Existenz über den Transfer des Lichts dem Bildträger unverbrüchlich eingesengt hat. Deshalb hat man der Fotografie auch objektive oder dokumentarische Qualitäten bescheinigt.
Die Autoren fotografischer Bilder hinterlassen keine Spuren. Anders als die Maler: Deren Spuren haben sich vermöge der malenden Hand in die Oberfläche des Bildes eingefräst; selbst da, wo sie sich absichtsvoll bemühten, sie mit penibler Feinmalerei zu leugnen. Fotografische Autoren profilieren sich als unverwechselbar allein durch die Auswahl von Ort, Zeit, Licht, Beleuchtung, Bildausschnitt und Bildperspektive sowie Arbeitsmethode, ausschließlich in Form der Projektion.
Andrej Pirrwitz ist in seinem Werk den vielfältigen Bezügen und Bezüglichkeiten von Spuren – auf der Spur. Jenseits der Motive, die in seinen Bildern sichtbar werden, ist es der spezifische Charakter von Spuren, der Gegenstand der fotografischen Erkundung ist. Das klingt einigermaßen paradox, resultiert andererseits aus dem besonderen Charakter der Spur. „... fort und da zugleich, darin besteht die Paradoxie aller Spuren“, stellt Thomas Macho treffend fest. Die Spur ist als Spur präsent, sobald sie sichtbar wird. Im Gegensatz zu dem, worauf sie verweist. Schon deshalb ist die Fotografie ein paradoxes Medium; wobei einschränkend gesagt werden muss, dass nur das analoge Verfahren der fotografischen Technik auf das Fixieren von Spuren gepolt ist. Pirrwitz´ Medium ist die Fotografie. Zugleich ist sie sein klandestines Thema. Mindestens zwei Ebenen korrespondieren in seinen Bildern.
Offensichtlich ist, dass sich Raum und Zeit verschränken. Raum und Zeit bedingen einander wechselseitig – wie im „richtigen Leben“. Gerade mit dem Problem, das flüchtige Phänomen der Zeit plausibel zu veranschaulichen, haben sich die Bildkünstler schwer getan, seit sich die Erfahrung des Daseins immer stärker differenziert hat. Der mittelalterlichen Malerei war die Logik der Chronologie noch unbekannt. Sie schaltete souverän über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, unbekümmert um die Reihenfolge der dargestellten Ereignisse. Danach feierte die Malerei den „fruchtbaren Augenblick“ (Gotthold Ephraim Lessing), der in der Fotografie sein Pendant in Henri Cartier-Bressons „moment décisif“ hat. Doch schon im 19. Jahrhundert forderte die Zeit mit Macht ihren Anteil der Aufmerksamkeit, und die Malerei reagierte darauf, indem sie sich dem seriellen Prinzip öffnete. In der Folge von aufeinander bezogenen Bildern manifestierte sich der fortlaufende Prozess der Zeit. Die Entdeckung des Films schien die Lösung aller ästhetischen Probleme zu bringen. Doch der Film überlistet lediglich das träge Auge, indem er 24 einzelne fotografische Bilder in der Sekunde hintereinander durch den Projektor jagt.
Drei Möglichkeiten, um das Verrinnen von Zeit im Bild zu vergegenwärtigen, hat die Fotografie entwickelt; alle sind an die Bewegung gekoppelt: die Serie – samt ihren vielen Varianten, die Verwischung und die antizipierte Bewegung. Pirrwitz bedient sich mit Hilfe der Langzeitbelichtung einer weiteren. Im intelligenten Einsatz der Langzeitbelichtung besteht freilich nur die eine Seite seiner künstlerischen Leistung. Die andere äußert sich in der eigentümlichen Beschaffenheit, ja Physiognomie der Räume, die er für seine Bilder aussucht.
Das Aussuchen der Räume nimmt nicht nur die meiste Zeit seiner künstlerischen Arbeit in Anspruch – die Wahl entscheidet letztendlich über das Gelingen seiner künstlerischen Bestrebungen. Die Räume in den Bildern sind mehr als Kulissen. Sie sind die wahren Akteure des Bild-Geschehens. Dabei geben sie in paradoxer Zuspitzung auch das beharrende Moment ab. Entsprechend sorgfältig geht Pirrwitz bei der Suche vor. Manchmal tut er einen Raum auf, den er Jahre später erst für ein Bild nutzen kann. Umgekehrt kann es sein, dass ein bestimmter Raum ihn inspiriert. Manchmal wird er erst nach Jahren fündig. „Das Suchen bestimme seinen Arbeitsstil“, sagt er.
Weil er in Farbe fotografiert, sucht er meistens „graue Räume“. Noch so eine paradoxe Verwicklung. Grau galt wie Weiß und Schwarz lange als Nicht-Farbe. In der „klassischen“ Schwarz-Weiß-Fotografie wurde Grau zum Ereignis. In Pirrwitz´ Farbfotografie entfaltet es ein ungeahntes Spektrum von Nuancen und legt den Mantel der Unauffälligkeit ab, ohne auffällig zu werden. Es ist eine Frage der Sicht, wohin die Spur der Farbe führt.
In den Räumen, in denen der Künstlerfotograf seine Kamera aufstellt, eine Linhoff-Laufboden Kamera, findet sich eine Fülle von Spuren. Spuren früherer Nutzung und Nutzer, Spuren der Funktion, welche die Räume gehabt haben, auch Fragen, welches Kalkül hinter ihrer Errichtung gestanden hat; vorwiegend ein ökonomisches oder ein ästhetisch-architektonisches? Nicht selten verschwimmen die Unterschiede. Ohnehin sind es scheinbare. Im Kern gibt es sie nicht. Es sei denn Ökonomie wird allein als Gewinnmaximierung übersetzt. Irritieren mag, dass Pirrwitz vor der Aufnahme alte Spuren verwischt und neue Spuren angebracht hat. Mit dem Ziel, die strukturell-konstruktiven Elemente der Räume zu betonen. Die Unterschiede werden selten sichtbar.
Die Räume sind nüchtern, Ornamente fehlen. Bei den meisten handelt es sich um aufgelassene Funktionsräume in teils mehr, teils weniger desolatem Zustand. Viele wirken wie leer geräumt. Andere wie zugemüllt. Keiner der Räume, der nicht vom Künstlerfotografen eigens hergerichtet worden ist. Hinzufügen und wegnehmen von Gegenständen gehören zu den Gestaltungsmitteln ebenso wie das Umstellen und Einfärben. Zurücknehmen und Entfärben überwiegen. „Entfärbungen“ nennt er deshalb auch eine Werkgruppe seiner Arbeit. „Ich überstreiche Graffitis mit schwarzer Farbe oder färbe Säulen und Türen ... grau ein“, sagt er. Damit reduziert er den Anteil der Zufälligkeiten dessen, was den Räumen im Laufe ihrer Geschichte zugesetzt hat, und obendrein die mögliche Unübersichtlichkeit im Bild-Geschehen. In der Regel beherrschen markante Vertikal- und Horizontallinien die Szenerie. Häufig kommen leichte Schrägen hinzu, eher beiläufig, durch Seitenwände, die sich im Windkanal der fotografischen Perspektive verjüngen. Ausnahmen sind verwirrende Zusammenballungen von Materialien. Das konstruktive Bildgefüge führt sich darauf zurück, dass Pirrwitz allein ein 150mm Weitwinkelobjektiv verwendet. Unter den Bedingungen der gegebenen optischen Konstellationen entspricht es dem Normalobjektiv.
In manchen Bildern scheinen die frontalen Wände die Welt vor den Blicken zu verschließen. Ein Gefühl der Bedrängnis und Bedrückung stellt sich ein. Der Raum reduziert sich in den Bildern auf die Dimension der Fläche, sicht- und fühlbar. In anderen Bildern tauchen hinter den Räumen neue auf und dahinter wieder neue – wie in den Gemälden Pieter de Hoochs. Die Augen der Betrachter begeben sich auf Erkundungsfahrt. Das Bild-Geschehen erfährt eine Wendung ins Dynamische. Der Fluchpunkt der Bilder pflanzt sich weiter und weiter fort in die Illusion der Bildtiefe.
Gelegentlich verdoppeln sich die Räume, up side down. Was zunächst wie eine Montage anmutet, ist eine Spiegelung. Der Boden ist mit Wasser zugelaufen. Auch Glasfenster schaffen Irritationen. Sie verwischen die Grenzen zwischen Vorder-, Mittel- und Hintergrund. Ein zweiter, ein dritter Blick wird notwendig, um sich in den Bildern von Andrej Pirrwitz orientieren zu können. Es kann aber passieren, dass die Blicke an den Glasfronten abgleiten, dass sie von Bildern abgewiesen werden, die auf ihrer Hermetik, ihrer Unzugänglichkeit beharren.
Nicht alle Wände der Räume sind grau. Rot, Ocker, Lichtblau treten ebenfalls auf. Und wo Grau den Ton anschlägt, ist es kein Einheitsgrau, vielmehr ein Grau, das mal ins Weiß, mal ins Blau, mal ins Grün, mal ins Schwarz tendiert. Die porösen oder glatten Oberflächen der Materialien der Wände und Böden sowie die Spuren, die im Laufe der Zeit an ihnen haften geblieben sind, beeinflussen die Farbwerte. Dem Licht fällt eine zentrale Rolle zu. Es ist nicht nur ein wesentlicher Faktor bei der Intonation von Farbe; es schafft die Atmosphäre eines Raumes, stärker noch als die jeweilige Architektur. Da Pirrwitz nur mit und in natürlichem Licht fotografiert und künstliche Beleuchtung verschmäht, gilt dem Licht seine gesteigerte Aufmerksamkeit bei der Suche nach Locations für seine Bilder. Nicht zuletzt deswegen, weil er ein Licht bevorzugt, das der Szenerie einen Stich ins Unwirkliche vermittelt und der festgefügten Architektur eine unvermutete Leichtigkeit. Das Licht ist darüber hinaus eine Erscheinung wie die Zeit, flüchtig und veränderlich – immateriell.
Immateriell scheinen auch die verwischten Farbflecken in zahlreichen Bildern, ein Ultramarinblau, ein Rot, ein Gelb, ohne Körper. Häufig heften sie sich allerdings an transparente Figuren oder schwingen wie Wolken hinter ihnen her. Sie schweben in den kompakten Räumen, liefern einen geradezu physisch erfahrbaren Kontrast dazu. Männer und Frauen sind bisweilen in den Bildern erkennbar, mit farbigen Mänteln oder Pullovern bekleidet, ein leuchtend roter Sweater, der auf einer Leine hängt. Durchweg manifestieren sie sich in teils angedeuteter, teils betonter Verwischung, wiederholen, verdoppeln sich, auch halb oder vollständig nackt, selten weisen sie Volumen auf. Dass sie wie Erscheinungen aussehen, ohne Erscheinungen zu sein – mit Ausnahme in ihrer fotografischen Wiedergabe – ist Resultat der Langzeitbelichtung sowie des Umstandes, dass sie sich während der Belichtungszeit bewegt haben. Sie haben es auf Initiative des Künstlerfotografen getan, der bei Bedarf auch selbst als Modell dient, und mit ihrem Fehlverhalten, gemessen an konventionellen ästhetischen Maßstäben der Fotografie, ein künstlerisches Wollen realisiert: Partielle Unschärfe ist ein wirksames Element von Pirrwitz´ Kunst.
Die Zeit der Belichtung eines Bildmotivs variiert, zwischen 30 Sekunden und drei Minuten. Die Dauer wird sichtbar in dem Grad des Verlustes an Kontur, ohne dass die Konturenschwäche der „beweglichen“ Bild-Motive aufgrund der besonderen Gestalt ihrer Sichtbarkeit mathematisch genau messbar wäre. Voraussetzung ist allerdings, dass sich die in Frage stehenden Personen oder Gegenstände innerhalb der fotografierten Räume befinden, bewegt werden können oder sich selbständig bewegen.
Die fest gefügten Strukturen der Architektur und sporadisch auftretenden Accessoires wie etwa Büromöbel, bevorzugt Stühle verleihen den Bildern das Gerüst. Sogar da, wo sie fragmentiert oder zerstört sind, bilden sie den kontrastierenden Fond zu den ephemeren Phänomenen und definieren Raum. Der Kontrast betrifft zunächst die Modalitäten der Struktur. Bündig gegen amorph, klare Linien gegen Verschwommenheit, starr gegen fließend. Darüber hinaus erschließt die Langzeitbelichtung einen Weg aus dem fotografischen Dilemma des Erstarrens, des Einfrierens von Bildern auf einen einzigen Zeit-Punkt, eines definitiven Schnittes in das Kontinuum der Zeit mit dem Resultat der End-gültigkeit.
Andrej Pirrwitz erstattet der Zeit gleichsam auch im fotografischen Bild zurück ihren dynamischen Charakter, das Werden und Vergehen, die der fotografische Akt stoppt. Ein tröstlicher und gleichzeitig schmerzlicher Aspekt ergibt sich, einer, der von subjektiver Einstellung nicht zu trennen ist. „Spuren verdanken ihre Aura“, sagte der bereits zitiert Thomas Macho in einem zweiten Satz, „dem Kommentar.“ Und der Kommentar ist abhängig von mannigfaltigen Faktoren, von veränderlichen Variablen: Stand-Punkt, Ort, Perspektive und Zeit.
Licht, Raum, Farbe, Form, Bild-Format und Bewegung (Zeit) verschmelzen in den Bildern von Pirrwitz zu einer Synthese eigenständiger Bild-Realität mit un- oder überwirklichen Zügen. Eine Realität, die eher aus dem Kino vertraut ist als der Malerei. Präziser gesagt: Es ist eine Realität mit dem anschaulichen „Aroma“ einer Sorte von Kino, das in seinen besten Werken eine neue Welt entstehen lässt oder die vermeintlich so vertraute in einem anderen, fremden Licht. Dabei ist die Kunst von Andrej Pirrwitz keineswegs kinomatographisch ausgerichtet, sondern durch und durch fotografisch. Das Bild-Format spielt eine wichtige Rolle. Es bedarf eines gewissen Umfanges, um physisch zu wirken, das Zeigen in ein Wirken zu überführen.
Das Verschwinden des Bestehenden ist die letzte Konsequenz der unaufhörlichen Veränderung – von Autor, Bild-Motiv, Werk und Betrachter. Pirrwitz fasst den Prozess des Vergehens in poetisch-melancholische Bilder von wunderbarer Intensität und nicht ohne leise Ironie.
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